Der Besuch der alten Bäuerin

25.02.2021

Aus dem Radio ertönte eine zu hohe cholerische Frauenstimme die empörte Laute veräusserte über Exekutiventscheidungen von welchen sie offenbar benachteiligt wurde. In gebückter Haltung schob ich mechanisch bewegend den Schaber über die feuchten Gummimatten hinter den Kühen hin und her. Ein "Sali" ertönte von einem Manngesichte das die Lage im Stall mit den dunklen Augen hastig prüfte. Meine Antwort schallte an den Rücken der Gestalt die im Begriffe eines Rückzugs war. Ein paar Schaberzüge später fragte mich selbige Person, welche es sei? Ein rottransparenter Handschuh bedeckte mittlerweile seinen schwarzhaarigen linken Arm bis zum Ellenbogen. "Ah, hier ist sie", als auch schon Bauer Wilhelm die sichtlich nervöse Kuh beruhigte. Die Besamung ist industriell kühl und lässt jede Heidiromantik vermissen. Als die Reifen des Veterinärs auf den Schotter des Vorplatzes gepresst wurden, war die Kuh wieder mit dem komplizierten Akt des Wiederkauens des opulent staubigen Heufutters beschäftigt. Eifrig lud ich den zweiten Teil des Mists auf die Garette, als Augenblicke das zur Resonanz geformte, überlagernde und gelinde Schmatzen der Kuhgebisse die Stallluft erfüllte.

Ein langer schmaler Schatten näherte sich steif meiner abgelenkten Aufmerksamkeit, den eine längliche und aufrechte Frau verursachte. Die abgewetzten Kleider verrieten ihr bescheidenes bäurisches Wesen und dürften ihre hagere Gestalt schon seit Jahrzehnten zieren. Sie machte sich in einer Ecke so unsichtbar wie möglich und beobachtete mich angestrengt, nachdem sie ein blaues Kunststoffköfferchen auf ein Brett stellte, indem Plastikbehälter entblösst wurden. Nur einmal fragte sie mich nach einem Trog, wo sie den verbogenen Schöpflöffel zu reinigen gedachte, der mindestens das Alter ihrer Kleider aufwies. Ich gab mir beim Ausmisten besondere Mühe und machte auch keine erkennbaren Fehler, bis zu jenem Missgeschick, als ich mit dem halbkreisförmigen Mistgabelende das Radiokabel ausriss, das malträtierte Gerät zu Boden schleuderte und trotzig ein Lied von Kunz jäh unterbrach. Das spitze Kinn unter dem eingefallenen Gebiss dieser Bäuerin gab kaum hörbare Töne von sich und nur mittels Lippenlesen erkannte ich die Frage, ob ich der Knecht sei. Ich antwortete laut, in der Hoffnung, sie würde mein Dezibellevel adaptieren. Es stellte sich heraus, dass sie die Kuhmilch wog, ein durchaus wertvolles Unterfangen das elfmal jährlich zu praktizieren sei. Mit einer bis dahin nutzlosen Federwaage, die an einer korrodierten Kette von der Decke baumelte, transformierte sie das Volumenmass in minuziösen und trägen Bewegungen in ein Gewichtsmass. Die beginnenden Spalten ihres Formulars mit Kuhnamen, die in der engen Talschaft bis ins letzte Jahrhundert ebenso für Frauen Verwendung fanden, erspähte sie sekundenschnell. Vermeintlich moderne Namensgebungen, wie sie in der fortgeschrittenen kulturellen Erosion sowohl von Kindern und Nailstudioinhaberinnen im fernen Glatttal getragen und nun beinahe lieblos auch Kühen vergeben werden, erschwerte die aufrichtige Arbeit dieser Bäuerin unnötig. Sie fragte nach und beinahe endlos hielt sie nach dem richtigen Behälter Ausschau. Träge blickte sie auf das Köfferchen bis sie ein Plastikbehälter hob und aus dem gewogenen Milchkessel ein paar mal abschöpfte. Umständlich drehte sie an der Federwaage, die sie unsensibel verzog, damit ihre Pupillen durch die alte Gleitsichtbrille die Zahl zu entziffern vermochten. Nachdem sie achteinhalb Stechschritte zum Notizblock getan hatte, folgte ein mühseliger Kampf mit den Kugelschreiber, die ihre Zahl nicht akkurat aufs Blatt übertrugen. Als der Kugelschreiber bereit war, hatte sich die Masszahl des Gewichts in ihren Hirnwindungen subtil verflüchtigt, worauf sie jene nachzuprüfen hatte. Lautlos liess sie mich wissen, dass ich nun den Kessel in die bereits vorgekühlte Metallkanne giessen könne. Nach getätigten 35 Arbeitsminuten - so stand es zumindest zittrig auf ihrem pastellroten Tabellenbogen - das schöpfend, messend und tabellarisch eintragend vonstatten ging, geriet am Ende ihres unentbehrlichen Einsatzes die Ausgangssuche in eine dumpfe Verwirrung. Der rechteckige und wandlose Stallgrundriss vermochte ihr Vorstellungsvermögen zu entzerren, als sie mir mit ihrem Bündel wortlos zum Abwaschtrog folgte, in der kalten Hoffnung dort das Tageslicht zu ersehnen, worauf ich mich milde helfend einschaltete.

In den folgenden Minuten ging ich meiner handlangerischen Tätigkeit in behände erlernter Routine nach. Ich tränkte die gierigen Kälber mit Spezialschnuller, an denen schon bald Sabberfäden anhafteten, die sich über die verwitterten Querbalken des Zauns allmählich gegen den grauen Boden zogen. Den Abwasch erledige ich in gewohnter Gründlichkeit. Bei der letzten Heufütterung stand ich wischend etwas umständlich im Futtertog und balancierte meinen ermatteten Körper durch die Kuhschädelstafette und konnte mit nachlassenden Kräften nicht verhindern, von Kuhzungen abgeleckt zu werden. Der dritte Besuch an diesem jungen Abend gehörte einem irrwizig grinsenden Irokesenjungen, der hinter der Scheune ein Garten im Pachtland betrieb. Wilhelm unterhielt sich wohlwollend mit ihm, den er kurzfristig anzustellen wusste, den Arbeitsbeginn verlautbarte und den Stundenlohn veräusserte. Dankend und immernoch grinsend verschwand die Irokese im grellen Mondlicht. Man müsse solchen Leuten auch eine Chanche geben, auch wenn ihm den Führerausweis entzogen wurde, er mit 30 noch immer keinen Abschluss in der Tasche hatte und auch schon mit Drogen erwischt sein sollte, sagte mir Wilhelm in semi altruistischer Tonlage. Der stämmige Körper wäre durchaus für körperlich angestrengte Arbeiten ausgelegt, frohlockte er optimistisch.

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