Einmal im Jahr bin ich deutsch

03.02.2023

Es gibt nichts konstanteres in meinem Leben, als die innige Verbindung zu unserem nördlichen Nachbarland.

Die schnörkellose ehrliche Art der Teutonen, Borussen oder Schwaben - wie sie mal ehrfürchtig aber öfter pauschalisierend abwertend bezeichnet werden - imponierte mir schon seit Kindesbeinen. Nun, als kleiner Junge nahm ich zunächst die schönen, teuren Autos wahr, die stetig in meine Sinne traten. In schierer Anzahl strömten Sie in die Berge und allzu oft jenseits des Alpenbogens wo die Sonne zuverlässiger wärmt. Die Wagen waren mit solch einer Masse an Waren vollgestopft, dass mein Blick kaum zuverlässig hinter die Scheiben drang. So orderte ich die ersten Lexika für deutsche Nummernschilder und lernte so lange, bis ich sämtliche Landeskreise mit den zugehörigen Kürzel kannte. Ich lernte die Bundesländer, deren Hauptstädte und schrieb mir Städte auf, merkte mir deren geografische Lage und Einwohnerzahl. Zu Weihnachten liess ich mit genuine Bildbänder von der Waterkant bis zum Alpenrand und deutsche Strassenatlanten schenken - jedes Jahr eine neue Auflage, in der ich die Veränderungen penibel studierte. Ich wusste wo Oschatz liegt, dass Zinnowitz ein Dorf auf Usedom ist, wo die Treene fliesst, der Jadebusen braust, der Teutoburger Wald steht oder wo sich das Rothaargebirge befindet (in dem ich einmal freilaufende Wisente beobachten wollte, stattdessen auf grausames Wolfsgeheul gestossen bin und in meinem Zelt kaum ein Auge zugemacht hatte).

Ich amüsierte mich köstlich an den Deutschen Vor- und Familiennamen, führte gar eine Liste mit den sonderbarsten Kombinationen bei denen ich zuverlässig die besten kürte. Je deutscher und ulkiger desto mehr trieb es mich zum Lachen, ein freudiges, wohltuendes Lachen. Mein Puls in die Höhe trieb montagabends Günther Jauchs Quizshow, bei der die Kandidierenden von einer äusserst sonoren Stimme im Sekundentakt vorgestellt wurden. Vorname, Nachname, Wohnort, Klatschen, Winken, die oder der Nächste. Welch eine Wonne! Darum beneidete ich Deutschland jahrzehntelang. Keine Erosion der Namen, ehrliche, kulturell bewährte Wortgebilde die vertraut klingen (im Gegensatz zu den helvetischen Auswüchsen wo scheinbar die willkürliche und profillose Aneinanderreihung von Konsonanten im Namensregister verewigt werden).

Auf viele Schweizer wirkte meine unübersehbare Deutschlandaffinität äusserst befremdend. Eins sei angemerkt, wir befinden uns noch immer im Zeitalter der völkischen Schadenfreude und Deutschlandskepsis. Selbst besonnene und grundsätzlich neutrale Personen wünschten sich spätestens bei den Fussballspielen ein krachendes deutsches Scheitern. Obwohl Deutschland mittlerweile ein beliebtes Reiseland der Schweizer ist, schlägt dem Land noch heute viel Spott und Häme entgegen und der Hohn bei einem frühen Versagen ist jeweils grenzenlos. Es scheint mir, als wäre die Freude am deutschen Scheitern wichtiger als das Schweizer Weiterkommen. Nichts hallt so zuverlässig durch die Strassen, als der Lärm wenn Deutschland verliert. Das kränkt meine Seele derart empfindlich und ich schimpfe dann über den helvetischen Minderwertigkeitskomplex, den unsere DNA nicht abzustossen vermag.

Später bewunderte ich die Fülle an Dichter und Denker, Erfinder, Musiker, Literaten, Astronomen und Mathematiker welche die abendländische Kultur und den Fortschritt der Menschen entscheidend prägten. Im fortgeschrittenen 21. Jahrhundert in dem ich zum sinnierenden Bürger mit einem ausgeprägten Pazifismus herangereift bin, sehe ich den Nationalismus grundsätzlich skeptisch an. Ich träume von einem freien und offenen Europa, das den nationalstaatlichen Kleingeist überwindet, dessen Schwierigkeit ich nicht unterschätze und als Kompromiss grössere Entitäten oder Subentitäten durchaus nicht ablehne, unter dem Aspekt der Werteunion.

Doch einmal im Jahr tragen auf einem 800 m2 grossen Feld die Handballer ihre Welt- oder Europameisterschaft aus. Grob streiten Spieler um mehr Netzkontakt des Balles und auf den Rängen werden bis zur scheinbaren Unkenntlichkeit des homo Sapiens Körper mit Nationalflaggen behängt. Just in dieser Szenerie schlägt es wieder, Sandros Herz - zu 100% für Deutschland. Kein Aufwand ist mir zu gross, stehe um 3 Uhr morgens auf, nehme frei oder reise nach Zagreb in die Arena. Ich leide, juble, klatsche und freue mich über jedes Tor, über jeden Sieg und weine kindlich bei einer Niederlage, bei der die Welt unter meinem Segen untergehen kann, denn schlimmer kommen kann es selbstredend nicht. Im Spiel der Deutschen erkenne ich jene ehrliche, nüchterne und faire Spielweise, die mich endlos faszinieren. Ein Team, mit dem bedingungslosen Kampf um jeden Ball, das die Entscheide der Schiedsrichter und die Unfairness der Kontrahenten unbeeindruckt lassen. Der Kommentator, der mit seiner ausgereiften Professionalität das zur Schau gestellte treffend beschreibt und Experten, die zuverlässig analysieren, interviewen und hinterfragen Minuten vor und nach dem Spiel. In diesen Momenten bin ich deutsch und bewundere dieses Land mit den mir so imponierenden Tugenden. Tage später streife ich mein obskures Verhalten langsam ab und mein Geist wird wieder sachlicher und meine Seele ruhiger.

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