Der Appell

12.08.2019

Seit meinen traumatischen Erfahrungen beim Militärdienst, verachte ich jeden Akt, der im Zusammenhang eines bewaffneten Konflikts steht, sei es auch nur zu Übungszwecken oder zur Verteidigung, ist er doch Ausdruck menschlicher Beschränktheit.

In China weht mir diesbezüglich ein eisiger Wind entgegen und ich muss befremdende Erfahrungen erleben. Über viele Grossstädte fliegen täglich Kampfflugzeuge, teilweise sehr tief. Kinder spielen wie selbstverständlich mit Spielzeug-Sturmgewehren, die von den Eltern grosszügig konsumiert werden. Seltsame Blüten dieser Militärgesellschaft sind die morgendlichen und/oder abendlichen (je nach Business) Appelle. Sie scheinen branchenübergreifend praktiziert zu werden. Von Feuerwehr und Polizei habe ich das schon wahrgenommen (damals, als ich selbst im Polizeiauto sass, als der Fahrer plötzlich die Scheiben schloss und die Musik aufdrehte).

Neulich wurde ich aber Zeuge von einem Appell in einem Supermarkt, auf der vierten Etage, auf welcher sich diverse Restaurants aneinanderreihen. In einer abgelegenen Ecke hatte ich eine Steckdose für mein elektronisches Buch gefunden und las über irgendwelche Prinzipien von Henry David Thoreau, als ich ungebetener Zeuge wurde.

Die Chefin hat mit stählerner Stimme und eisiger Mine ihre Truppe vor dem Eingang des Restaurants versammelt. Nebenan findet zeitgleich ein Appell statt. In Reih und Glied hat sich die Zwölfergruppe formiert. Die Frauen stehen links, die Männer auf der rechten Seite, selbstverständlich der Grösse nach geordnet. Ihre Körper stehen gerade, die Füsse sind fest mit dem Boden verbunden. Die Namen werden aufgerufen und mit einem klaren "nihao" (Hallo) quittiert. Dann folgt die scharfe Chefinstimme, die anklagend und vorwurfsvoll klingt. Ob es an der schlechtesten Restaurantbewertung "C" liegt, darüber kann ich nur spekulieren. Doch damit ist es in der Stadt in bester Gesellschaft. Wer diese prominent platzierten Bewertungen vornimmt, konnte ich bis dato nicht eruieren.

Die Chefin, mit farbigem Foulard bestückt, lässt persönliche Diffamierungen nicht aus. Kein Zucken erkenne ich in der Zweierreihe. Als eine Kundin für eine vorübergehende Atempause sorgt, dürfen zwei Mitarbeitende austreten. Es herrscht absolute Stille. Als die Personen zurückkehren, geht das Spiel weiter. Es wird nicht freundlicher. Als der Chefin keine niederträchtigen Silben mehr einfallen, ist das Gros entlassen, das sich gehend zum Arbeitsplatz bewegt. Drei junge Angestellte, eine Frau und zwei Männer, werden noch einer separaten Behandlung unterzogen. In der Mitte hat zu stehen, an wen sich der Appell richtet. Die Positionen werden zwischendurch ausgetauscht. Der Appell nach dem Appell dauert mindestens nochmals so lange wie der erste.

Der Appell vom Restaurant nebenan dauert noch an, als ich die Zeilen verfasse. Er klingt nicht so herrisch, wie der vor meinen Augen. Er endet allerdings mit dem Einziehen sämtlicher Natels...

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