Zugfahrt nach Chengdu

13.08.2019

So einiges bin ich mir gewohnt, in Sachen Zugfahrten. Ob in Albanien, Rumänien oder Armenien, Russland oder Norwegen, den Vereinigten Staaten oder Weissrussland, Luxemburg oder Litauen. So manches Abenteuer habe ich auf Schienen bereits erlebt. Was ich allerdings in China erlebte, sprengt die Vorstellungskraft eines gesitteten SBB- oder RhB-Fahrers.

An die Sicherheitskontrollen und die besonders strengen Zutrittskontrollen für Touristen, hat sich der Geist bereits gewöhnt. Dass es jedoch Stunden dauert, bis man die zugewiesene Sitzgelegenheit erreicht, ist eine neue Erfahrung. Bis Wagen sechs sind die Gänge so verstopft, dass an ein Durchkommen nicht zu denken ist. Es kommt zu ersten Scharmützeln und Handgemengen zwischen Dränglern und deren Widersacher, die niemanden passieren lassen, ungeachtet des Einzelfalls. Es sind Ferien und 1,4 Milliarden Menschen wollen transportiert werden. Ich befinde mich in der Mitte eines Sechserabteils, Bewegungen nach links und rechts sind nur eingeschränkt möglich. Meine Füsse haben gerade noch einen Platz auf dem Boden gefunden. An den ständigen Lärmpegel gewöhne ich mich nicht. Selbst um drei Uhr in der Nacht telefoniert jemand oder schaut unverschämt laut Kurzfilmchen, die irgendwelche Menschen in stupiden Tätigkeiten blossstellen. Es wird gebrüllt und geschlagen. Ich beobachte die komplette Verrohung der Menschheit. Herr Knigge hätte spätestens bei diesen Anblicken einen Herzinfarkt erlitten. Die Sitten sind ebenso rau wie beim Jahreshöhepunkt - dem Gnagiessen - des Lokalvereins im Wiggertal. Immer wieder mischen sich Verkäufer unter die Meute und bieten irgendwelche getrockneten Beeren oder Würstchen feil, in einer Lautstärke, wie sie auf dem Täbriser Basar nicht ein Dutzend Marktschreier hinbrächten. Geraucht wird im Übergang zwischen den Wagen. Es ist ein stetiger Qualm der mich bei ungünstiger Zugluft erreicht. Nach dem Geschlürfe und Geschmatze sieht es so aus wie im Sittertobel nach dem der letzte Bass verklungen ist. Ich gehe auf das WC, zumindest wird das Loch im Zug so bezeichnet. Vorüber geht's an verrenkten Körpern, wider humaner Anatomie. Neben dem WC schläft ein Mann auf dem Linoleumboden tief und fest. Seine Brille liegt auf Kopfhöhe am Boden, die Gläser sind nach unten gerichtet. Es erstaunt mich, dass ich Schlafperioden von zwei, drei Stunden habe, was ohne Ohrstöpsel kaum zu vollbringen ist. Am Morgen rasiert sich mein Gegenüber das Kinn und sein bares Haupt, vergisst aber eine Stelle über seiner rechten Ohrpartie. Wie ich feststelle vergisst er die Stelle öfters. Die eingefangenen Haarstummel werden am Schluss auf dem Boden entleert. Seine morgendlichen Rituale enden mit einer Spritze, die er ins Fettgewebe des Bauches injiziert.

Draussen ziehen gesichtslose Wohnblöcke vorbei, dass Le Lignon oder Bümpliz unschuldig erscheinen.Die Bahn war für mich stets mehr als ein Transportmittel. Ein Sehnsuchtsort, der die Hoffnungen und Freuden, aber auch die Melancholie seiner Orte und Passagiere verströmt. In China scheint diese Harmonie zumindest sistiert.

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