Heim

16.07.2021

Die Wohnungssuche entpuppt sich als ein diffiziles Unterfangen, zumal die abgesteckten Grenzen ein Korsett schnüren, das den Spielraum bei der Auswahl empfindlich eingrenzt. Zunächst haben seine Gedanken damit gespielt, in die liebliche Gegend seiner Arbeitsstätte zu ziehen. Ihn bezirzte der vehikellose Lebensstil den er hier ungehemmt zu praktizieren gedenkte. Er hat sogar die helle Einliegerwohnung mit grandioser Terrasse im Dorf besichtigt. Letztlich waren ihm die zwei belgischen Schäferhunde des Vermieters zu ungeheuer und die beklemmende Ruhe im Dorf, die nur von zwei übermotorisierten Mofajungen martialisch gebrochen wurde, hatten ihm einen nachhaltig trübsinnigen Eindruck vermittelt, dass er sich postum für die Innerschweizer Kapitale entschied, die ihm je Heimat war. Doch wusste er überhaupt, was Heimat war? Mit Sicherheit wagte er sich nicht festzulegen, obwohl ihm beim Ankommen jenes düsteren Sonntags die fidele Lebendigkeit dieser Stadt eine Wärme verlieh, die annähernd mit einem heimischen Gefühl beschrieben werden könnte. Der Quai des malerischen Sees und die Berge strotzen vor müssiggängerischen Menschen, die des Lebens frönten und er glaubte sich an ein Lächeln in seinem Antlitz erinnern zu können.

Es folgten Wochen der Untätigkeit, die er ungestört hinnahm, da er für den Herbst reichlich früh in das kräftezehrende Rennen des lokalen Wohnungsmarktes einstieg. Monate nach jenem denkwürdigen Sonntag hat er sich spontan für die Besichtigung einer Wohnung am Waldrand entschieden, dessen gepflegten Wohntürme mit ihren unruhigen Balkonfassaden ihn in einen gegensätzlichen Gemütszustand jener besichtigen Ländlichkeit katapultierte, der ihn überforderte. Zu allem Überfluss trug die Bewohnerin ein Kleid aus derbem Stoff, die ihn an Gardinen eines alpinen Hotelkomplexes in Leysin der späten Siebziger erinnerte. An der makellosen Einrichtung und der Wohnung hatte er kaum etwas auszusetzen. Auf dem Balkon hingegen legte sich ein leichter Schauer über seinen Rücken, ausgelöst vom niedrigen Geländer jenes siebten Stockwerks, das ihm apriori ungeheuer daherkam. Die malerische Aussicht auf die Rigi, gar die mittelalterliche Stadtmauer erkannte er, vermochten jenen Geist eines infamen Nationalismus nicht zu kitten, die ihm in Form von baumelnden Landesflaggen an den umgebenden Häuserfassaden entgegenschlugen, dass er sich genötigt fühlte, das Quartier aus seinem Suchperimeter zu verbannen.

Ein paar Tage darauf besichtigte er jene Art von Wohnblocks, die in den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts wie Pilze aus dem Boden schossen und noch heute die äussere Innenstadt charakterisieren. Die kleine Wohnung gehörte einem Altersgenossen, dem er aufgrund der ungezügelten Einrichtung ein Hauch von Biederkeit attestierte, die sein stummes Wesen unbestätigt liess. Eindrücklich waren allerdings die Chroniken seiner Mutter, welche die linksangrenzende Wohnung bevölkerte und ihn über sämtliche Bewohnende der letzten 34 Jahre aufklärte. Wäre er in jenem Moment nicht standhaft gewesen, hätten ihn die Wortschwalle dieser Frau unablässig an die abgeblätterte Tapetenwand gedrückt. An ein Familiensandwich hatte er keine Lust, da der Sohn sich mit dem Umzug in die grössere Wohnung rechts nicht aus den Fängen seiner Mutter emanzipierte, so dass er auch diese Wohnung als für ihn ungeeignet erachtete.

In einem Anfall übersteigerten Elans durchkämmte er jeden freien Winkel der Stadt und stand genüsslich im Tagesintervall in irgendwelchen Wohnungen die im Herbst frei wurden. So auch in jenem soliden Haus, das zu seinem entsetzen Karmesinrot angestrichen war, extrovertiert auf einem baren Felsen trohnte und mit der zeitgenössisch geformte Loggia entzückte. Die engen Platzverhältnisse schreckten ihn zunächst etwas ab. Auch die offene Pizzaschachtel mit dem triefenden Mozzarella des Bewohners zog ihn nicht sonderlich an. Dieser klärte ihn ungezügelt über die angrenzende Handyantenne der fünften Generation auf, die Lärmemissionen der nahen Baustelle und führte ihn noch in die Garage zu seinem sportlichen BMW, obwohl er ihm nur wenige Minuten zuvor erklärte, dass er für einen Parkplatz keine Verwendung hatte. Den Todesstoss gab schlussendlich die Mieterhöhung des Eigentümers - einer grossen Versicherung - die den Mietzins in eine unmoralische Sphäre hob.

Ausgerechnet eine grosszügige Wohnung im nördlichen Arbeiterviertel mit ausladenden Wohnsilos gefiel ihm dermassen, dass er beherzt ein digitales Bewerbungsdossier aufsetzte, dem er ein blumig formuliertes Schreiben voranstellte. Die baldige Zusage liess bei ihm unweigerlich eine jauchzende Wonne hervorbringen, die ihm gewöhnlich nicht eigen war. Ob er sich in der Örtlichkeit zurechtfindet, wird die Zukunft weisen. Gewiss ist die designierte Wohngegend weniger vornehm und das Bildungsniveau bescheidener. Für ihn stellt jedoch die Abwechslung und Erlebbarkeit des vielfältigen menschlichen Daseins ein Privileg dar, in dem er einen weiteren Mosaikstein eines diversen Lebens setzen möchte.

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