Ryokan

01.11.2019

Die zahlreichen Schälchen präsentieren sich rasterförmig vor mir. Meine Augen laben sich an den kokett angerichteten Spezialitäten. Noch zögern meine Hände, dieses Kunstwerk zu zerstören. Spätestens jetzt wird mir bewiesen, weshalb die japanische Küche zum Weltkulturerbe zählt. Ich sitze beim Dinner in einem Ryokan, dem traditionellen japanischen Gasthaus. Es ist die stilvollste Übernachtung auf meiner Reise und seit langer Zeit gönne ich mir wieder etwas Luxus (der Letzte war wohl in einem Wiener Kaffehaus, als mir ein Kellner im Smoking die Torte und den Tee servierte).

Dann beginne ich den Schmaus, der hauptsächlich aus Meerestieren besteht. Wahlweise beuge ich mich über die Häppchen von Oktopus, Garnele mit Fisch, Krebszange, anderen Fisch, Muscheln in der Brühe, Pilze, Ei in einer zähflüssigen Masse und Reis. Jedes Schälchen ist individuell und neben den Hauptspeisen verschönern Möhrchen, Broccoli, Blumen oder Pistazienmousse, mit Zitronen- und Sojasauce die Gerichte. In einer fünfblättrigen, gusseisernen Blütenform koche ich den Speck mit Sprossen, Kohl und Lauch selbst. Es ist ein wahrer Genuss. Zum Dessert wird mir eine halbe, süsse Kiwi und ein Apfeltörtchen gereicht, dazu gibt es japanischen Tee (gerösteter Grüntee).

Bereits der Empfang war denkwürdig. Als sich mein Rücken zu beugen begann, um die Taschen zu heben, wurde ich dazu aufgefordert, diese Tätigkeit dem Personal zu überlassen. Stattdessen wurden mir eilig Hauspantoffeln zentimetergenau vor die Füsse gelegt, meine Schuhe abgenommen und feinsäuberlich in einem Regal hinter der Gardine verstaut. Ich wurde in die Lobby geführt, wo mein müder Körper im weichen Ledersofa versank. Das Personal trägt eine traditionelle Yukata und ist stets hastig unterwegs. Ein Herr lässt meine sieben Taschen diskret in meinem Zimmer verschwinden, wo er bereits den Schlafplatz herrichtet.

Unterdessen lese ich die Erklärungen auf den A4-Blättern, die mir eine Frau höflich hinstreckt und beim Nicken wendet oder austauscht. Für exakte Erklärungen reicht ihr Englisch nicht aus, weshalb diese vorgefertigte Hilfe beansprucht wird. Wir vereinbaren die Zeit, an welcher ich dinnieren und frühstücken möchte. Im Anschluss zeigt sie mir die vier verschiedenen Bäder und lässt mich wissen, wann nur Männer Zutritt haben, welche Bereiche gemixt und welche getrennt sind. Sie zeigt mir den Esssaal, die Toilette und führt mich in mein Zimmer. Im Vorraum ziehen wir die Pantoffeln aus und treten in den Hauptraum ein. Die Füsse spüren die weichen Tatamimatten, die aus feinem Reisstroh gefertigt sind. Holzbalken und rechteckige Muster aus japanischer Zeder lassen eine heimelige Atmosphäre entstehen. In der Mitte stehen ein Tisch mit kurzen Beinen und zwei Stühle, die nur aus Sitzboden und Rückenlehne bestehen. Etwas höher sitzt man auf den eckigen Sesseln am Ende des Raumes. Im Schränkchen hinter der Schiebetür bringt mir die Frau meinen Yukata, eine Art Mantel, der mit einem Band um die Taille zusammengebunden wird, und erklärt mir, wie ich ihn anzuziehen habe. Damit bewege ich mich zu den Onsen (Bäder) und zum Dinner. Manche Japaner bedienen sich ihm auch als Schlafanzug.

Ein Fernseher steht diskret an der Seite. Warmes und kaltes Wasser steht bereit, wie auch ein Kühlschrank. Das Bett besteht aus einer Matratze und einer Decke, die portabel auf den Tatamis ausgebreitet werden. Warmes Licht erhellt bald den Raum. Weisse, leicht transparente Papiere sind von einer Holzfassung umgeben und bilden die Fenster. Ein direkter Blick in die bewaldeten Berge wird erst ermöglicht, wenn diese zur Seite geschoben werden. Genussvoll inhaliere ich die gemütliche Atmosphäre, bevor meine Augenlieder zuklappen und ich in einem glücklichen Schlaf versinke.

Am nächsten Morgen vergnüge ich mich nochmals im heissen Aussenbecken. Der starke Regen lässt Ringe auf die Oberfläche zeichnen, die von neuen Tropfen verdrängt werden. Dass ich in ein paar Stunden bei diesem Wetter mit dem Velo unterwegs sein sollte, trübt meine gelassene Stimmung kaum. Später sitze ich im Esssaal und werde erneut mit Köstlichkeiten verwöhnt. In einer quaderförmigen Truhe sind diverse Häppchen verstaut. Beim Öffnen fühle ich mich wie unter dem Weihnachtsbaum, um wenig später von Lachs, Muscheln und Algen überrascht zu werden. Wiederum kann ich Speck mit Ei selbst braten. Das Teewasser, aus geröstetem Grüntee, schenke ich mir beim Tresen hinter dem Eingang ein. Aus verständlichen Gründen zögere ich meinen Abschied aus diesem Mikrokosmos hinaus, wie ein unbändiges Kind, das nicht ins Bett gehen will. 

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