China, ein Nachruf

09.10.2019

China, du hast mich elf Wochen beherbergt, oder soll ich sagen, du musstest mich elf Wochen ertragen? In keinem anderen Land zuvor hielt ich mich länger auf, als bei dir. Die Zeit war aufregend und spannend. Ich kann nicht sagen, dass du mich stets mit Wohlwollen begrüsst hast. Zu viele Steine hast du mir in den Weg gelegt, um mir hinterher eine positive Konnotation zu schenken. Dennoch hast du mich immer wieder verzaubert und überrascht. Deine Janusköpfigkeit wird mir in Erinnerung bleiben.

Meine Vorfreude hast du mir schon nach wenigen Tagen geraubt. Dein Misstrauen mir gegenüber war so gross, dass du mein Gepäck abermals durchleuchtet hast, dass du mich verfolgen musstest und mich mitten im Nirgendwo aus meinem Zelt, in dunkler Nacht, in einer unverhältnismässigen Aktion, wegführtest. Deine Polizisten waren bemüht freundlich und haben mir Wasser und Melonen geschenkt, um mir die Wüstenfahrten zu erleichtern. Doch irritierten mich ihre Falschaussagen und Begründungen, welchen nicht einmal mein dreijähriger Neffe Glauben schenken könnte.

Dein Antlitz war zunächst langweilig, braun und heiss. Wie ein Föhn auf stärkster Stufe hast du mich ausgebremst. Dann wurdest du grün, faltig und feucht. Du hast mir gezeigt, dass du auch kalt sein kannst und wunderschöne Schluchten hast. Im Osten werden deine Narben grösser, aber deine Landschaft bleibt abwechslungsreich. Dass du überall Kameras aufhängst, deine Landwirtschaft aber kaum industrialisierst, bleibt für mich ein Mysterium. Ich habe gesehen, wie Wassermelonen, Äpfel, Mandarinen, Kakis, Granatäpfel, Blumenkohl, Mais und Reis gedeihen. Wie Erdnüsse getrocknet und Gänse und Enten behirtet werden. Du hast mir gezeigt, wie du die Millionen Krabben züchtest, die dein Volk so genüsslich verzehrt. Nichts mochte ich an dir so sehr, wie deine deliziösen und vielfältigen Gerichte. Keine Mikrowellen brauchst du und bereitest alles frisch zu. An die Schweinenase, den Entenschädel und den Oktopus am Spiess habe ich mich hingegen nicht getraut. Deine Nudel- und Reisgerichte vermochten meinen Gaumen zu stimulieren.

Die Infrastruktur aus Schienen und Strassen, deine Brücken und Tunnels, deine Wohntürme und Pärke sind beeindruckend. Doch weshalb baust du sie ohne bewegliche Widerlager, Entwässerung und Erosionsschutz? Am liebsten mochte ich deine Velowege, die mich in den Städten sicherer fahren liessen, obwohl diese von tausenden Elektrorollern okkupiert werden.

Du möchtest deine Bürger umerziehen, in Städte stecken und überwachen. Du möchtest ihr Verhalten belohnen und bestrafen. Ich frage mich, ob es dir gelingen wird, das Ausspeien und Geschmatze, das Flatulenzieren und Eruktieren von der Strasse zu verbannen? Dein Effort, deinen Abfall zu trennen, die Sonnenstrahlen und den Wind einzufangen und zu elektrifizieren, sind beeindruckend, auch wenn mir die Flüsse mit den Plastikteppichen und der Smog in den Städten aufgefallen sind.

Du hast mir aufgezeigt, wie wertvoll freiheitliche Errungenschaften sind. Diese schaffen mündige Bürger, die eine pluralistische Gesellschaft mit all ihren vielfältigen und gewinnbringenden Ideen ermöglichen. Ich weiss, dass du dein Modell als überlegen betrachtest und auf eine Expansion drängst. Doch deine Bürger mit den normierten Meinungen sind vielfach nicht zu rationellem, kritischem Handeln befähigt, weshalb ich sie in ihrer Hilflosigkeit bemitleide, wenngleich sie so freundlich sind. Dazu, dass du mich zu einem bewussteren Europäer gemacht hast, bin ich dir dankbar.

Zum gegenwärtigen Zeitpunkt bin ich froh, dass ich dich verlassen kann. Ich weiss auch nicht, ob wir uns wiedersehen werden. Auf jeden Fall verstehe ich deine Bürger etwas besser, die in unser Land reisen.

Für die Zukunft wünsche ich dir alles Gute und hoffe, dass du dir deiner globalen Verantwortung bewusst wirst und dein Nationalismus nicht in einer Katastrophe endet.

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