Der Eingriff

30.03.2021

Draussen schweben leichtfüssig und adrett Menschen übers Kopfsteinpflaster, bis ihre wundersame Heiterkeit von der alten Tramkomposition geschluckt wird. Andere springen in zierlichen Frühlingsoutfits Hand in Hand ihrer wollüstigen Jugendlichkeit zur Schau stellend dem glitzernden Wasserbogen entlang. Er wendet sich von der anmutigen Szenerie ab und nimmt noch einen Schluck aus der hellblauen Mineralwasserflasche. Ihm fallen auf der Etikette die hervorgehobene Landesflagge und ein paar chemische Abkürzungen auf, die er einmal in der Schule gelernt hatte. Erst beim Zuschrauben des Deckels wird ihm bewusst, dass seine Hände zittern. Bald wird dieser Mann im weissen Kittel vor ihm auftauchen, der vorhin mit dem bronzenen iPad ein paar Fotos von seiner Kopfhaut in verschiedenen Winkeln erzeugte und dann hinter der massiven Holztür verschwand. Das Hemd, das er sorgfältig überstreift, erinnert ihn an einen Malerkittel eines plakativen Kinderfilms aus den 70er Jahren.

Zwei Männer in besagten Kitteln, einer in Schwarz der andere in Weiss, erscheinen und beordern ihn höflich mit der Kunst einer flachen Handgeste auf den synthetischen Ledersessel, auf dem er zunächst am liebsten karussellhaft seiner aufkeimenden kindischen Begierde nachgegangen wäre. Doch er beherrscht sich und starrt ruhig sitzend an die kahle Wand und den schlichten Kasten auf dem ein paar Bambusstäbchen in einem dunklen Gefäss ein angenehmes Raumaroma verbreiten. Bereits wenige Atemzüge später vermochten seine Sinnesorgane sich dieser Annehmlichkeit nicht mehr anheimgeben. Der schwarze Kittel hat einen bestialisch surrenden Gegenstand gezückt und ihn unter minimalem Vorwarnen zunächst das braunblonde Haar radikal abgetrennt. Nicht ohne Genugtuung bemerkt er die zahlreich angehäuften Haarbüschel, die in den Trichter fallen der urplötzlich seinen Hals umgibt.

Mit einem schwarzen fingerlangen und hochpigmentierten Kajalstift wird seine Haut punktiert, damit sich von der Stirn ausgehend sein Kopf symmetrisch einteilen lässt. Bei diesem überaus langwierigen Prozess hat er hin und wieder seine Stirn in Runzeln zu schlagen um die Muskulatur anzuzeigen, wie die freundlichen Stimmen ihn aufklären. Ihm wird zum ersten Mal bewusst, dass der homo sapiens in dieser Gesichtsgegend Muskeln aufweist. Dann folgen zahlreiche Tupfer mit chemisch angereicherten Feuchttüchern. Abermals wird ihm die hohe Stirn neu flankiert um später erneut feucht abgewischt zu werden. Die Symmetrie ist kaum hinzukriegen, beraten sich die zwei Stimmen der Kittel dezent. Die Kahlstellen scheinen sich in unterschiedlichen Tempi gegen den Hinterkopf zu fressen. Ihm bleibt beim finalen Anblick jegliche Intervention verzagt, der ihm die abschreckenden Striche mit den römischen Zahlen auf seinem Kopf im Spiegelbild offenbart. Es wird wohl gut sein. Die machen das schliesslich nicht zum ersten Mal.

Die gescheckten Flecken die so plötzlich seine Netzhaut bedecken, bilden bald einen vollständigen schwarzen Film, bis er sich gezwungen sieht, zu intervenieren. Der Kreislauf bei solchen klinischen Eingriffen ist seine konstante Schwäche. Gestützt von zahlreichen Händen wird er auf den Schragen gelegt, der ihn so freundlich weich umarmt. Blutdruck-, puls- und sauerstoffsättigendes Messinstrumentarium wird aus Schubladen gekramt und ihm um gerade günstige Körperteile gezogen. Eine neue blaue Wasserflasche wird ihm zum Mund geführt. Die Etikette mit dem Schweizerkreuz und den chemischen Formeln missachtet er diesmal unwillentlich. Auch der immergrüne Riesensequoia den er beim Durchblick aus dem Sprossenfenster sähe, nimmt er nicht wahr, obschon ihm der Anblick eines solchen mächtigen Baumes nie gleichgültig ist, er geradezu wehmütig beklagt, dass diese Mammutbäume in der gegenwärtigen Botanik kaum mehr ästhetische Akzente setzen dürfen. Sein Kreislauf stabilisiert sich, die Messgeräte liefern beruhigende Werte. Die chirurgische Liege wird mit saugfähigen Stoffen ausgekleidet und wenig später hat er sich bäuchlings hinzulegen. Ein paar Mal justierte er seine Position noch unter zuckenden Bewegungen, damit sein Gesicht in die Lücke des Kopfhalters lugt, was jedoch reine Makulatur ist, da die Finger des schwarzen Kittels eingreifen und sein Haupt in eine seitliche Position rücken. Der schwarze Kittel gehört zur Arbeitskleidung eines freischaffenden Transplanteurs aus Kleinasien, der seinen Mundschutz beharrlich flach unter der Nase trägt. Sein Gesicht wird ihm bei der Entnahme von Explantaten am Hinterkopf immer wieder unangenehm in das Polster der Chirurgenliege gedrückt, das sich irgendwann so hart anfühlt wie sein Fahrradsattel. Der Transplanteur verlangte nach Energieradio, so dass bald das bulgarische Pendant durch den Lautsprecher braust. Das sei ihm egal, obwohl er Bulgaren grundsätzlich nicht leiden könne. Schliesslich hätten diese seine Familie einst aus ihrem Land vertrieben. Sie hätten zwar auch einen Scheisspräsidenten. Ihn verwundert das fäkale Vokabular, das nicht in diese geordneten Wände mit dem angenehmen Raumaroma passt. Auch an die elende "Bro"-Anrede gewöhnt er sich erst gegen Ende des Eingriffs. Diese kollegialvulgäre Sprache erweckt den trügerischen Eindruck, sie seien früher zusammen am Ufer des Bosporus gesessen bei einer Schischah und süssem Schwarztee, während im Hintergrund die Rufe des Muezzins vernehmbar waren.

Die weichen Eisenklöppel des Grossmünsters schlagen zweimal gegen ihre Hülle, als er sich auf den Rücken legen darf, was für ihn zu einer angenehmen Entlastung der stark beanspruchten Kopfpartie führt. Das verursachende Geräusch mit dem seine Kopfhaut anschliessend gelöchert wird, erinnert ihn an die gefrorene Oberfläche seiner geliebten Himbeerglace beim ersten metallenen Durchstich mit einem Löffel. Erst nachdem die tausenden händischen Einstiche getätigt sind, kann er sich unter dem Tragen einer Kopfhaube über die extravagant geformte Pasta hermachen, die im rhomboiden Gefäss mit den beiliegenden Tomaten, Zucchetti und der zerkleinerten Pouletbrustwürfel erkaltet sind. An ein probates Schmelzen der geschmackvollen Parmesanscheiben ist nicht zu denken, weshalb er diese resigniert in die zähe Ratatouillemasse mithilfe des biegsamen Polymerbestecks vermengt. Ein paar Blicke gönnt er sich auf den quirligen Quai, der von eifrigen Menschen strotzt. Auch der bezaubernden Riesensequoia widmet er nun seine ehrfürchtigen Blicke und reibt sich den öligorangenen Mund mit der Papierserviette sauber.

Die aufwändigere zweite Partie wartet auf ihn, als die Sonne bereits durch das zweite Sprossenfenster dringt. Unter beeindruckenden Handgriffen werden die auf einer Flüssigkeit konservierten Haarwurzeln in die vorbereiteten Stiche eingepflanzt, bis sich die kajalschwarzen Formen mit schwarzen Punkten ebenmässig füllen. Die Sonne hat längst den aufdringlichen Abendgestirnen Platz gemacht, als ihn am Ende des Eingriffs der zweite Schwächeanfall befällt. Die kurz davor geköstigte Schokolade schien zu wenig schnell ins Blut gedrungen zu sein. Wieder sind es Hände die ihn stützen und Messgeräte, die zahlreiche Blutwerte überwachen. Bis er sich auf seinen wackligen Puddingbeinen die Treppe zum finalen Gespräch aufrafft, vergeht eine gute Viertelstunde. Er ist froh, dass die zehnstündige Prozedur vorüber ist. In die zahlreichen Spiegel traut er sich nicht zu schauen und blickt beruhigt dieses von leichter Arroganz gezeichnete Adonisgesicht, das ihn vom Flur so selbstsicher anblickt und wohl niemals in einer solchen Klinik landen wird...

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