Ein Schlag ins Gesicht oder wie teuer ist ein Velo?

04.04.2020
Der 25. August 2018 darf in meiner Biografie durchaus als besonderer Tag gelten, nur schon dem Umstand gewidmet, dass ich für die Hervorhebung im Tagebuch Grossbuchstaben verwendete und nicht bloss eine Randnotiz gewährte. Nach tagelangem feilschen an Komponenten, durchstöbern von Webseiten und Recherchen in einschlägiger Literatur, durfte ich jener Gegenstand abholen, mit dem ich durch Sonne und Regen fahren werde. Es ist eine Zwangsbeziehung, die ich zu diesem Zeitpunkt - nun mein Körper hatte mit der Ausschüttung von Glückshormonen nicht gegeizt - nicht als unilateral bezeichnen möchte. Trotz der überschwänglichen Freude, möchte ich den potentiell entstehenden Eindruck, hier schreibe ein unverbesserlicher Materialist, nicht mit Vehemenz, jedoch entschieden, zurückweisen. Zu erwähnen ist, dass ich mehrere Monate auf meinen (Un-)Glücksbringer wartete, als hätte ich vor 35 Jahren jene Büchse bestellt, die am Automobilwerk beim Sachsenring gefertigt wurde. Dass mein Gegenstand aus dem unlängst wiedervereinigten Staat stammt, schreibe ich - auch heute noch - dem Zufall zu. Der Verkäufer dankte mir nicht nur, nein, er gratulierte mir übersteigert zum Kauf dieses Gefährts, das ein Gegenstand fürs Leben sei, bevor er mich mit diesem ablichtete. Der entstehende und bisher grösste Sturz meiner Vermögenskurve war zwar geplant, jedoch von kleinerer Dimension budgetiert (dieser Satz scheint mir auch als subtiler Hinweis zu taugen, der Schreiber sei nicht dem verfänglichen Materialismus erlegen). Qualität, habe eben seinem Preis, der sich lohnen werde, beruhigte ich meine leisesten Zweifel (sie sehen, die Glückshormone sind nicht allzeit dominant).


Es folgten ein paar Spazierfahrten ins malerische, hügelige Umland, zur Arbeit und als Generalprobe, im Uhrzeigersinn dem Genfersee entlang. Das Fazit der Generalprobe darf nachträglich als durchzogen bezeichnet werden, obschon das Velo sich keine Blösse gab, musste einiges Material ersetzt werden.

Die ersten Kilometer auf meiner Reise hatte ich bereits eine Liste mit Änderungsvorschlägen für mein Rad verfasst, was jedoch noch nicht zur vollständigen Denunzierung des Luxusprodukts taugte. Die erste Platte nach knapp 2700 Kilometern fand ich nicht dramatisch. Geblendet wurde ich stets von den respektvollen Äusserungen angetroffener Radler, die mehr als ich, die Komponenten meines Fahrrades eingehend studierten und umgehend zu huldigen wussten.

Wenn mir einige Monate später das Innenlager abfallen sollte, war ich erstens auf Hilfe angewiesen und zweitens war die Reputation meines Velos schon stark beschädigt. Zwei Wochen dauerte die Lieferung des Ersatzmaterials von Deutschland in die Schweiz. Darüber, dass sich Veloplus und ihr Herstellungspartner Tout Terrain im Zeitalter der Postkutsche befinden, wurde ich nicht in Kenntnis gesetzt, obwohl sie durch meine Adresse im Bild sein mussten, dass ich mich im autokratischen China befinde, wo man sich nicht beliebig lang aufhalten darf. Die Expresslieferung von der Schweiz nach China dauerte nochmals mehr als zwei Wochen. Zum Vergleich: Gerade einmal zwei Tage dauerte die Lieferung meines Passes von der Schweiz nach Kirgisstan. Kirgisstan ist demokratisch, China nicht (China hat weniger Zweifel denn je, dass ihr System überlegen ist).

Als einen Monat später der Rahmen brach, das Licht kaputt ging, die Kurbel abfiel und auch die Stromversorgung abbrach, kam in mir unwillkürlich der Gedanke, dass ich vermutlich mit meinem Bahnhofvelo nicht mehr Probleme gehabt hätte. Den Superlativ sollte man nicht missbräuchlich anwenden, von den getroffenen Velofahrern (etwa 30) war ich derjenige mit dem teuersten Velo, das jedoch aussergewöhnlich pannenanfällig schien. Es kam mir vor, dass ich einen Dacia im Rolls-Roys-Gehäuse gekauft hatte. Entsprechend fühlte ich mich vom Kaufberater und der Herstellerfirma über den Tisch gezogen, worauf ich mich über die trügerische Beratung und die unzulängliche Qualität zu beschweren wusste. Mein Velohändler äusserte sich zur Wahrung der Garantieleistung vorsichtiger als noch beim vollmundigen Verkaufsgespräch. Dafür werde der breisgauer Hersteller zunächst den Rahmen untersuchen, wobei er nicht davon ausgehe, dass ich den Rahmen selbst tragen müsse. Ein Ersatzrahmen erstellte Tout Terrain bereits - mit der obligaten Lieferverzögerung - und sendete Ihn an Veloplus.

Veloplus teilte mir später mit (mein betrauter Veloverkäufer hatte mittlerweile die Firma verlassen), dass Tout Terrain den Rahmen leider nicht übernähme und mein Velo nach erfolgtem Service zur Abholung bereit stünde. Spätestens die widerspenstigen Chinesen riefen bei mir eine proaktive Form des Gerechtigkeitssinns hervor, den ich mir folgend zunutze machte. Nach der dritten involvierten Person von Veloplus war mein Fall nur noch in einer unmutauslösenden Oberflächlichkeit, ja Gleichgültigkeit, vorhanden, die mich selbst an den Hersteller Tout Terrain verwies. Veloplus erzeugte den Eindruck, es liege ihnen kaum etwas am Kundenwohl. Von Tout Terrain erhielt ich erst Antwort, als auch Veloplus nochmals intervenierte. Es folgte ein unrühmlicher Schlagabtausch, bei dem weder Veloplus noch Tout Terrain Eingeständnisse machten und sich den Schwarzen Peter gegenseitig zuschoben. Erst spät folgte die Antwort von Tout Terrain, dass sie Ihren Entscheid nicht revidieren würden. Zur Begründung wurde verlautet: "Die Straßenverhältnisse und die Fahrsituationen in die Sie sich begeben sind Ihre freie Entscheidung sobald Sie sich auf Ihr Rad setzten." Selbst von "unsachgemässer Nutzung des Produkts" war die Rede. Bei einer simplen Recherche auf der Webseite von Tout Terrain sind denkwürdige Worte wie "Premiumhersteller" mit "robusten Reiserädern", "um in jedem Terrain zu überzeugen" zu finden. Weiter lese ich die vollmundigen Phrasen "Zuhause sind sie auf den Straßen und Wegen dieser Welt." oder "Grenzenlose Zuverlässigkeit in jedem Winkel der Erde" oder "Erschaffen für Globetrotter. Gemacht für jedes Terrain. Überzeugend in jeder Situation." oder "bis zu 160 Kilogramm zulässiges Gesamtgewicht". Das wirkt ebenso zynisch wie proletenhaft.

Diese Bosheit nahm ich bei Veloplus zum Anlass, dass ich gerichtlich intervenieren werde, wenn sie den Rahmen nicht übernähmen. Veloplus warf mir vor "unsachlich" zu sein und attestierte mir "fachliche" Inkompetenz, stieg jedoch auf mein Ultimatum ein, den Rahmen zu übernehmen. Selbst im letzten Mail des Kaufvertreters fehlte der Hinweis nicht, dass es "erwiesen" sei, dass der "Rahmenbruch unfallbedingt [...] entstand". Die Erkenntnis wie despektierlich Kunden von Veloplus und Tout Terrain behandelt werden, war bitter. Dass am Service diverse Nachbesserungen erfolgen mussten (die Powerbank wurde noch immer nicht eingebaut) und eine Zahlungsaufforderung vor der Rechnungszustellung erfolgte, passt schliesslich zum gewonnenen Gesamteindruck. Nun werde ich mir einen neuen Händler suchen müssen und fahre noch immer das unliebsame Velo, das mich mittlerweile mehr als 9000 Franken kostete. Dass die Welt nicht gerecht ist (und es kaum jemals sein wird), weiss ich spätestens, seit ich im Iran und China gewesen bin. Für Gerechtigkeit zu kämpfen empfinde ich als notwendig.

Durch einen abgewandelten Text Reinhard Meys kann ich resümieren: "Ich habe alle Reichtümer der Welt! Ich kann atmen, ich kann" lachen "und ich leide keiner Not, [...]", was mir doch wertvoller als ein Premiumgegenstand des Materialismus erscheint.

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