"Herr Magister, mein Fahrrad wurde gestohlen!"

18.12.2019
War alles umsonst? Diese mühevolle Suche des Velokartons in Osaka? Die doppelt bezahlten Tickets in den Zügen? Die 100 $ teure Taxifahrt durch Moskau? Das Tragen, Stossen und Schieben des Kartons durch die Treppen- und Türenfestung des Kiewer Hauptbahnhofes? Nein, das durfte nicht wahr sein. Beging ich tatsächlich am zweitletzten Tag meiner Reise den folgeschwersten Fehler?

Im 20-Minuten-Takt patrouillierte ich immer wieder zu den Schliessfächern, wo mein Karton stand, ohne dass er den Schutz eines Schliessfachs genoss. Gerade habe ich mir eine Elmex-Zahnbürste erstanden. Doch was hilft mir diese, wenn mein Karton nicht mehr an der Stelle steht, an dem er stehen müsste. Gelähmt stoppte ich meine Fortbewegung. Wer macht sowas? Wer transportiert den Karton weg, um sich an einem demontierten Velo mit einem rostigen, japanischen Stahlkorsett zu erfreuen?

Im 'Lost & Found' an der Ecke beschwerte sich zunächst ein Ehepaar fragend, weshalb ihre vergessene Tasche vom Zug nach Klagenfurt noch nicht abholbereit sei, wobei noch nicht einmal geklärt schien, ob das wertvolle Stück überhaupt abgegeben wurde. Später sagte mir ein Herr, dass kein Karton abgegeben wurde, um mir just vorzuwerfen, weshalb ich den Karton nicht im Skifach einschloss. Gottseidank machte ich ihn nur auf die deplatzierte, haltlose Anschuldigung aufmerksam und liess die Gedanken, dass Schweizer Skier kleiner als ein Velo sind und darin ein potentieller Grund besteht, weshalb die Österreicher unseren Wintersportlern hinterherfahren, unausgesprochen. Mein diplomatisches Geschick erfreute mich nur einen kurzen Augenblick, da das Kernproblem nicht gelöst wurde. Hastig verliess ich die stickige Aura der Anschuldigungen im 'Lost & Found', um mir ein Stockwerk höher von der Security sagen zu lassen, dass ihr Personal kein Velokarton beschlagnahmt habe. Beiläufig verwies sie mich an den Polizeiposten im Bezirk 4, Hauptbahnhof Wien, um den Diebstahl zu melden. Fassungslos wich ich dem unablässigen, vom weihnachtlichen Stress hastigen, Menschenstrom aus. Aus dem Affekt verwies ich Wien im persönlichen Städteranking von einem globalen Spitzenplatz direkt in die Nibelungen bei Mogadischu, war mir jedoch nicht sicher, ob es nur an den Schliessfächern lag, in welchen kein Velokarton Platz findet oder dass ein solcher unhandlicher Quader von 25 Kilogramm Gewicht, unlauter den Besitzer wechselte.

Vor dem Eingang zum Polizeiposten blies mir ein junger Beamter demotiviert ein Strahl aus Zigarettenrauch entgegen, bevor sein Mundwerk mich in den Innenraum des Kollegen beorderte. Der unsichere Mann bat seine Kollegin um Hilfe, als er mich angehört hatte, um sich das Anzeigeformular erklären zu lassen. Die feingliedrige Blondine fasste sich an den Kopf und konnte nicht glauben, welche naive Tat ich ihr schilderte, um mich umgehend zu belehren, dass ich doch ein solcher Fahrradkarton nicht unbeaufsichtigt stehen lassen könne. Ich musste ihr beipflichten und liess sie verstehen, dass ihre Worte mein Problem nicht zu lösen vermögen, worauf die Befragung prompt startete. Zeitversetzt mit meiner Formulierung wurden eifrig Tasten getippt, um die leeren Formularkästchen mit Worten zu füllen. Zur Abwechslung stellte ich die Frage, was jetzt geschehe?, um von der Blondie die gereizte Gegenfrage, was sie denn machen sollten? zu vernehmen. Ich erlöste sie mit den Worten, dass meine Frage nicht als Vorwurf zu verstehen sei und sie mir eine aufklärerische Antwort geben könne. Daraufhin schilderte sie mir, was geschehen werde und vermochte mit den Schlussworten, dass sich Wien nahe an Ungarn und der Slowakei befände, meine leiseste Hoffnung zu ersticken. Der zigarettenrauchende Beamte schlenderte durch den Korridor und sang untalentiert ein Lied, das er hasse, wie er anschliessend offenbarte. Unsere Befragung geriet ins Stocken, als eine Ukrainerin die Blondine beanspruchte. Diese wollte die getätigte Anzeige wegen Körperverletzung gegen ihren Mann zurückziehen. Es wurde ihr erklärt, dass die österreichische Gesetzgebung das zu recht nicht vorsehe. Vielmehr solle sie diesen Idioten dauerhaft verlassen. Die Osteuropäerin erwiderte in gebrochenem Deutsch, dass sie hier niemand hätte und ihr Mann durch psychiatrische Behandlungen wieder ein "guter Mann" geworden sei. Die feingliedrige Beamtin liess daraufhin jedes taktische, humane Feingefühl vermissen, indem sie der Frau riet, sie solle ihren Mann unverzüglich verlassen und sich einen neuen Freundeskreis aufbauen, bevor sie als nächstes im Spital lande oder man gar ihre Leiche fände.

Geschockt, von den kosmopolitischen Vorfällen dieser europäischen Grossstadt, verliess ich den Glaspalast, währendem meine Hände das A4-Blatt der Anzeige zur Hälfte falteten. Lethargisch taumelte ich zu den Schliessfächern im Untergeschoss zurück. In einer Ecke stach mir ein aufgeschlitzter Velokarton ins Auge. Tatsächlich handelte es sich um mein Eigentum, mit meinem malträtierten Velo drin. Alles war noch drin. Hat mich diese Reise nicht gelehrt, Ideen zu entwickeln, die zunächst den Innenraum nach meinem Velokarton hätten absuchen lassen sollen? Wie Hans Fallada könnte ich sagen: "Ich machte meine Dummheiten [...] unbegreiflich gründlich."

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