Russlands Weiten

12.12.2019

Die Leere der nutzlosen Stunden vor der festgesetzten Abreise, habe ich zunächst mit dem Bissen in die dreieckige Kohl-Pirogge durchbrochen. Der erhöhte Puls lässt die Nähe des Einstiegs in die grauroten Wagons der Russischen Eisenbahn spüren. Zu allem Überfluss bildeten sich in der kalten, herannahenden Nacht Schweissperlen auf meiner Stirn, die durch unbedachte Worte eines dahergelaufenen Bahnangestellten hervorgerufen wurden und von einem zu grossen, transportunfähigen Karton handelten, der von mir mühevoll vor den 8. Wagen geschleppt wurde.

Sergej zeigt mir ein Filmchen seiner Arbeit. Eine Übung, als Anti-Terror-Einsatz bezeichnet, lässt Maschinengewehre, die von weiss getarnten Männern im Schnee liegend, unheimliche Geräusche vor dem puschkinblauen Gebäude erzeugen. Ich lächle ein schockiertes Lächeln. Seit Nikita und der namenlose Mitfahrer in der Kälte von Birobidschan verschwunden sind, bilden wir im Abteil eine Schicksalsgemeinschaft. Das Kondenswasser am Fenster tropft unablässig auf die Gummiabdichtung. Die Thermometer an den Bahnhöfen zeigen Temperaturen von -17 bis -22 Grad Celsius an. Das flache Sonnenlicht dringt konstant bis zur bespiegelten Schiebetür vor und wird vom Schattenspiel der kahlen Birken durchsetzt. Vom mit Kohle erhitzen Samowar hole ich mir Teewasser und schaukle es behutsam durch den Korridor bis ins letzte Abteil. Die sanfte Melancholie der Taiga fällt von der flachen, weiten Landschaft in unser Abteil ein, gelangt auf meine Haut, wo sie von den Zellen absorbiert wird. Rauchende Uasik entfernen sich wackelnd auf den gefrorenen Strassen.

Sergej streckt mir das Bild seines viereinhalbjährigen Sohnes Stjepan herüber. Er sähe ihn nicht oft, der Arbeit wegen. Aber in Russland müsse man froh sein, wenn man Arbeit habe. Dann schwärmt er urplötzlich von der beschaulichen Schweiz, wo man bestimmt Freunde und Verwandte mit dem Auto besuchen könne. Draussen spucken die schmalen Kamine der bescheidenen Holzhäuschen weiss tanzenden Rauch in die rosenrote Farbe der Abendsonne.

Irgendwann, als sich die sibirische Weite in ein dunkles Schwarz verwandelt hat, klappt Sergej seinen Laptop auf und lässt einen Horrorfilm, aus amerikanischer Produktion, laufen. Er schenkt mir Schwarztee mit Orangengeschmack ein und öffnet eine Packung Chips. Es ist ein gemütliches Kino, das Sergej herrichtet, während unter uns das Eisen der Räder klappert.

Am nächsten Morgen lässt mich das Quitschen der Bremsen aus dem Fenster blicken. Dunkle Umrisse von bewegungslosen Gestalten erblicke ich, die regelmässig von einer aufkeimenden Glut auf Gesichtshöhe ihre Tätigkeit verraten. Wir sind am Bahnhof von Amazar angelangt. Das Thermometer zeigt -31 Grad Celsius an, was die Verkäuferin in der ausgebeulten Jacke mit Pelzkragen und dem alten Leiterwagen nicht davon abhält, ihre Produkte feil zu bieten.

Die Dämmerung dauert Ewigkeiten. Die Sonne scheint wie ein perfekter Morgenmuffel ihre Arbeit verspätet anzutreten. Auf der nördlichen Seite der Hemisphäre zeichnet der beinahe volle Mond noch lange Schatten in den Schnee.

Das Reisen mit der Eisenbahn ist beinahe zu schnell für mich und dennoch geniesse ich dieses Schaukeln der Wagen, während Russlands endlos scheinende Weiten vorüber gleiten.

© 2023 Sandro's Reiseblog. Alle Rechte vorbehalten.
Unterstützt von Webnode
Erstellen Sie Ihre Webseite gratis! Diese Website wurde mit Webnode erstellt. Erstellen Sie Ihre eigene Seite noch heute kostenfrei! Los geht´s