Sie wird nicht mehr weiss sein

09.12.2019

Ich habe es gespürt. Da war das subtile Stechen in der Brust, das ich in meiner Jugend vor Prüfungen fühlte. Sie hat es gewusst, bevor ich mich ins öffentliche WLAN an einem Bahnhof einlogge, der mit 'Goma' beschriftet ist. "Aus betrieblichen Gründen haben wir den Fährbetrieb temporär eingestellt", lese ich im Email der Reederei. "Wir werden so schnell wie möglich mit einem besseren Service aufwarten", steht auf Englisch geschrieben, gesendet von einer südkoreanischen Mailadresse. Das 'Temporär' wiegt schwer. Ausgerechnet jetzt, hadere ich. Eine zweite Gesellschaft hat die Verbindung bereits vor sieben Jahren eingestellt. Es wäre alles angerichtet. Ich bin auf dem Weg, um meinen Pass mit dem russischen Visum drin, im Hotel entgegen zu nehmen, in jener Stadt, von wo aus das Schiff ablegen sollte. Meine Planung diesbezüglich hat funktioniert, oder hätte funktioniert.

'Betriebliche Gründe'! Was heisst das? So eine Worthülse! Können sie sich nicht präziser ausdrücken? Habe ich vergebens die stickige Luft bis mitternachts in diesem Internetcafé von Tokio-Tamachi inhaliert, die Visumsunterlagen für Russland bereitstellend, während um mich Herren im Anzug irgendwelche Mangas glotzten.

Viereinhalb Jahren hat mein Gelübde gehalten. Nur! Noch erinnere ich mich deutlich an die Qualen des letzten Flugs von Bischkek über Istanbul, bei dem ich kauernd über der Toilettenschüssel verbrachte, bis Fäuste an die Tür trommelten. Mich nochmals in dieses unwürdige, von mir zutiefst verachtete, Transportmittel zu quetschen, ist eine Schmach. Da lege ich von zuhause beinahe jeden Zentimeter selbst zurück, bis ins ferne Japan und jetzt soll mich dieses Flugobjekt binnen Sekunden 200 m weit katapultieren, wofür ich mit dem Velo etwa 40 Sekunden benötigte. Unter lautem Getöse, bestimmt frierend, sicher ruckelnd, schaukelnd werde ich mich kreidebleich an den Armstützen des Sitzes klammern und jede Sekunde zählen, bis endlich die Räder auf der Landebahn aufsetzen werden.

Ich könnte ein Schiff kaufen. Jetzt wirst du unrealistisch, denke ich Bruchteile später. Wenigstens werde ich irgendwo versuchen am Hafen anzuheuern, bevor die drohende Kulisse Realität wird und meine Reise vollends entwürdigt wird.

Sie wird bald nicht mehr weiss sein, deine Weste.

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